Anne Sanders: Sommer in St. Ives

„Her name was Lola, she was a showgirl.“ Diesen Spruch hat Lola, die Protagonistin dieses Romans, schön öfters gehört.. Aber aus dem Mund von Chase Bellamy klingt er doch etwas anders.
Sommer, Sonne, Strand und Meer, dazu Meeresrauschen, Möwengeschrei, kieloben liegende Boote und eine Bildergalerie neben der anderen. Wenn dies auch etwas nach Klischee klingen mag, so ist das vielleicht nur in dieser Rezension so, denn in dem Roman beschreibt die Münchner Autorin sehr fein und mit viel Liebe zum Detail die Straßenzüge von St. Ives, die Landschaft von Cornwall und das Leben in diesem Landstrich. Bei den Lesern passende Bilder im Kopf hervorzurufen (Ich muss rot sein wie ein italienischer Kleinwagen.), fällt ihr leicht. Einfach zurücklehnen und die Bilder genießen, sollte zumindest beim Hörbuch gut funktionieren. Beim Lesen schweift man schnell vom Text ab und verliert sich in der cornischen Region.

Worum geht es in diesem Roman? Vor einem Jahr ist Großvater verstorben. Großmutter Elvira hat die Tochter Samantha samt Schwiegersohn Ben und den Enkelkindern Lynda, Lola und Luca an den Ort eingeladen, der für ihr eigenes Leben so prägend war. Noch im Flugzeug gehen alle davon aus, dass es sich um ein kleines Cottage handeln wird, in dem sie sich die nächsten sechs Wochen vergnügen dürfen, obwohl manchen von ihnen die Arbeit im Nacken sitzt. Doch dann werden sie bei ihrer Ankunft von einem großen Herrenhaus auf den Höhen überrascht. Die Großmutter erwartet sie schon, denn sie war wegen irgendwelcher Vorbereitungen eine Woche früher nach Cornwall gereist.

 Am ersten Tag wundert sich die Familie, dass sich Großmutter für den ganzen Tag über verabschiedet und erst am Abend wieder alle treffen werde. Noch dazu in einem Pub unten im Ort zu einem Konzert. Nun gut, alle wissen, dass Großmutter hin und wieder ein Klassikkonzert besucht. Um so überraschter sind sie, als sich herausstellt, dass es sich um ein Rockkonzert handelt. Die Familie versteht die Großmutter nicht mehr. Als nach dem Konzert der Gitarrist und Frontmann Sam Watson auf den Tisch der Familie zukommt, kommt es noch dicker …

Anne Sanders hat diesen Roman im Sprachspiel eines Tagebuches angelegt. Die sechsundzwanzigjährige Protagonistin Lola plaudert und plätschert ihre Erlebnisse so locker, als würde sie sie ihrem Tagebuch anvertrauen. Manchmal etwas zu locker, denn die Figuren sagen nichts, vielmehr quietschen, krächzen, schreien, quieken, quäken, brummeln und murmeln sie. Murmeln vor allem. Der Spannung und guten Laune beim Lesen kommt das aber nicht in die Quere. Auch der reichlich enthaltene Konfliktstoff, den die Familienmitglieder mit sich herumtragen, lässt keine wirklich düstere Stimmung aufkommen. Das gelegentlich schlechte Wetter in St. Ives sorgt ebenso wenig für Unbehagen, verbergen sich darin doch so manch spaßige Überraschungen.

Sander erzählt auf geschickte Weise gleich zwei Liebesgeschichten, die der Protagonistin Lola und die ihrer Großmutter Elvira. Sie erzählt von schwierigen Verhältnissen, welches die Frauen dieses Romans mit ihren Müttern hatten, und stellt dar, dass jede Generation mit ähnlichen Problemen zu tun hat und doch jeder seinen eigenen Weg gehen muss. Während die Hauptgeschichte von Lola selbst in der ersten Person erzählt wird, so erschließt sich die Geschichte der Großmutter über Rückblenden, die in der dritten Person erzählt werden. Stück für Stück setzt sich ein riesiges Familienpuzzle zusammen.
Ein rundum lesenswerter Roman für viel Sonne und Wärme im Herzen, der sich nach der letzten Seite nur schwer zuschlagen lässt.

Sanders, Anne
Sommer in St. Ives

Blanvalret Verlag, München
ISBN 9783764505462

© Detlef Knut, Düsseldorf 2016
Fotos: © Regina Knut, 2014

Jack the Ripper und der Erbe in Görlitz – Katrin Lachmann

Marco Petzold erhält von einem Londoner Anwalt namens Wilson einen Brief, in dem der ihm eröffnet, der Alleinerberbe von Mrs. Abigail Smith zu sein. Er mag es nicht glauben. Je mehr er sich aber mit dem Erbe beschäftigt, umso mehr festigt sich seine Erkenntnis, dass es sich bei dem Erbe um Unterlagen handelt, die mit… Mehr lesen …

Unschuld

»Unschuld« von Jonathan Franzen


Purity, genannt Pip, hadert mit sich und der Welt. Sie ist ohne Vater aufgewachsen. Ihre Mutter weigert sich, ihrer Tochter auch nur den kleinsten Hinweis zu geben. Das führte seit Pips Kindheit zu einem Kleinkrieg  mit der Mutter, der sich in einem ständigen Hin und Her zwischen Hass und Liebe zeigt.
Pip arbeitet im Direktmarketing bei einer Firma, die „Lösungen“ anbietet. Schwerpunkte sind Klimawandel, Energieressourcen und andere ökologische Themen. Doch schon bald merkt sie, dass sie mit ihrer telefonischen Akquise die Menschen in Verträge drückt. Das entspricht so gar nicht ihrer eigenen Lebensauffassung. Da lernt sie die Deutsche, Annagret, kennen. Die vermittelt Pip einen Job bei dem als Hacker und Whistleblower bekannten Andreas Wolf. Bevor Pip nach Bolivien, dem geheimen Unterschlupf von Wolfs Unternehmen, reist, startet sie einen letzten Versuch bei ihrer Mutter, etwas über ihren Vater zu erfahren und droht ihr, zu Andreas Wolf zu gehen, der ihr bei der Suche nach dem Vater helfen wird.

So weit der erste Teil des Romans „Unschuld“ vom sehr gut deutsch sprechenden Jonathan Franzen. Der zweite Teil liest sich wie ein eigenständiger Roman. Der Leser lernt Andreas Wolf kennen, der in der DDR aufgewachsen ist. Sein Nachname lässt erkennen, dass er zum großen Familienclan der „Wolfs“ gehört. Friedrich Wolf war ein überaus bekannter Schriftsteller, Konrad Wolf ein sehr guter Filmregisseur und dessen Bruder Markus Wolf war Chef der Auslandsspionage bei der Staatssicherheit der DDR. Vor diesem Hinterghrund erhielt die Figur des Whistleblowers und Dissidenten einen Vater, der Mitglied des Zentralkomitees der SED war. In diesem Teil erfährt der Leser auch von der Liebesbeziehung zwischen Annagret und Andreas Wolf, ohne jedoch allzusehr in das Romantische zu verfallen.
Im dritten Teil wird von Leila berichtet, die investigativ recherchiert und Pip bei sich aufgenommen hat. Pip arbeitet inzwischen bei der Organisation Andreas Wolfs, spielt in diesem Teil eine eher untergordnete Rolle. Viel spannender sind Leilas Recherchen und die Machenschaften der kriminellen und/ oder politischen Elemente.
Obwohl Franzen auch diesen Roman wieder wortgewaltig und unterhaltsam (subtile Ironie lässt er selten vermissen) schreibt, übertrifft er in meinen Augen nicht seinen Roman „Die Korrekturen“. Auch, wenn es erneut um eine Familiensaga geht. Immer wieder stößt man auf langwierige Passagen, die der Lust am Lesen entgegenstehen. Hätte ich nicht schon andere Romane des Schriftstellers und diesen Klappentext, der mir bereits verrät, wohin die Geschichte gehen soll, gelesen, hätte ich wahrscheinlich nach spätestens fünfzig Seiten abgbrochen und mir das darauffolgende Lesevergnügen versagt. Indem ich das nicht tat, wurde ich belohnt mit eines faszinierenden Lebensgeschichte verschiedener Figuren. Denn hier gibt es nicht nur einen Protagonisten, jede der Figuren ist facettenreich und höchst interessant.
Erstaunlich fand ich den Abschnitt um Andreas Wolf in der Zeit von den 1960er Jahren bis zur Wendezeit 1989/1990. Sehr gut recherchiert kommt Franzen dem tatsächlichen Geschehen verdammt nahe, was nicht zuletzt an der Unterstützung von Thomas Brussig gelegen haben mag, der ja bekanntlich sehr erfolgreiche „DDR-Romane“ schreibt.
Trotz zwischenzeitlicher Überlängen hat mich dieser Roman gefesselt. Wie auch bei seinen anderen Romanen werden die Protagonisten in separaten Teilen vorgestellt. In komplexen Situationen gibt er den Figuren Raum, um sich den Lesern zu präsentieren. Nur selten erfolgen unmittelbare Rückgriffe auf die anderen Teile, was alleine schon wegen der nicht chronologisch verlaufenden Teile schwierig sein dürfte. Erst im Großen und Ganzen werden die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Figuren aufgelöst und sichtbar. Mit jeder Seite, die man liest, fügt sich ein Rädchen ins andere, und man kommt in den Rhythmus der Gesamthandlung. Diese außergewöhnliche Komposition der einzelnen Teile, die jeder in einer andreen Zeit zu spielen scheinen, hat mich stark beeindruckt.
Weiterhin beeindruckt hat mich die Genauigkeit, mit der Franzen die Stimmung und Verhältnisse in der DDR wiedergibt. Von der oberflächlichen Arbeitsweise der Amerikaner keine Spur. Außerdem hat mir die leise Ironie gefallen, mit der der Autor beispielsweise die Naivität der Jugend in ihrem Drang nach „etwas bewegen wollen“, oder auch den Aufstieg eines DDR-Bürgers zum Whistleblower, oder das schwierige Verhältnis zweier sich Liebender, beschreibt. Schließlich setzte ich mich am Ende des Romans in meinem Sessel zurück, atmete durch und dachte: Was für eine Geschichte.

       
Franzen, Jonathan
Unschuld
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld
Rowohlt Verlag
ISBN 9783498021375

© Detlef Knut, Düsseldorf 2015