Iny Lorentz: Das goldene Ufer

imageDer Roman des Autorenpaares ist der Auftakt einer neuen Romanserie um die Auswanderungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Handlung beginnt im Morast und Schlamm, im Krieg. Der kleine Walter marschiert in einem Heer von Soldaten an der Seite eines Musketiers. Sein Regiment hatte erst vor zwei Tagen mit einem Teil von Napoleons Armee gekämpft. Nun sind sie auf dem Marsch nach Waterloo. Seit zwei Jahrzehnten marschiert der Kaiser der Franzosen von Sieg zu Sieg, doch nun wollen ihm die deutschen Truppen den Garaus machen.

Die Schlacht brachte viele Verluste, viele Weggefährten, darunter die Frauen, die im Tross mitmarschierten, wurden getötet. Während der Kämpfe rettet der kleine Junge, der stets mit seiner Trommel wegen ihrer Größe zu kämpfen hat, dem Regimentskommandeur das Leben. Oberst Graf Regnitz hat ein gutes Herz und belohnt den Trommler damit, ihn nach dem Krieg mit auf sein Anwesen zu nehmen und ihm gleichermaßen wie seinem eigenen Sohn eine Bildung angedeihen zu lassen. Walter bittet den Grafen, auch Gisela, die während der Schlacht zur Waise geworden war, mit auf das Gut zu nehmen. Die fürsorglichen Gedanken, die der Oberst pflegt, sind vor allem dessen Sohn, ein Luftikus und Möchtegern, und seiner Ehefrau, die wiederum den Sohn über alles schätzt und beschützen möchte, ein Dorn im Auge. So werden Ehefrau und Sohn zwangsläufug Widersacher in einem perfiden Spiel. Walter und auch Gisela bekommen Schulbildung auf dem Anwesen und werden später vom Grafen angestellt. Während Gisela als Magd in Diensten genommen wird, wird Walter, der der Sohn des alten Försters ist, gleichermaßen als Förster in Diensten genommen. Doch die außerordentliche Intelligenz Walters missfällt dem Sohne des Grafen überaus, lässt ihn schier vor Neid platzen.

Dem Autorenpaar ist mit diesem Roman wieder ein großes Abenteuer gelungen, in welchem sie das Auf und Ab der Gefühle der Leser bedienen. Der Leser wird hineingezogen in eine Geschichte, die es ihm unmöglich macht, nicht für die eine oder andere Figur im Roman Partei zu ergreifen. Atmosphärisch hat mich dieser Roman sehr stark an einige Werke von Karl May erinnert. Besonders an die Werke Mays, die in Deutschland spielen. Sie handeln im gleichen Jahrhundert wie der vorliegende Roman, und Förster, Grafen, Bedienstete sind dort ebenso bekannt wie die in diesem Buch. Iny Lorenz haben sich wieder mal in eine andere Zeit begeben und verstehen es fantastisch, die Liebe zweier Menschen während eines chaotischen und zerstörenden Umfelds erwachsen zu lassen.

Abenteuer und Lust auf Abenteuer zeichnen für einen sehr unterhaltsamen Roman. Dafür kann es nur eine volle Punktzahl geben.

 

Lorentz; Iny
Das goldene Ufer
Taschenbuch
Knaur, München
ISBN 9783426511695

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Julie Peters: Der vergessene Strand

clip_image002Amelie glaubt, in ihrem Leben angekommen zu sein. Sie ist seit einigen Jahren mit ihrem ehemaligen Dozenten Michael liiert, in den nächsten Monaten soll Hochzeit sein. Das Studium hat sie erfolgreich abgeschlossen. Ein Verlag hat sich für ihre Recherchen über Beatrix Lambton interessiert und möchte ein Buch herausbringen. Ihre Freundin Diana lebt gerade in Neuseeland, aber dank Internet nimmt sie rege an deren Leben teil. Was braucht es noch? Doch dann muss Amelie schmerzlich erfahren, dass Michael mit einer anderen Frau ein Kind bekommt. Sie war davon ausgegangen, dass Michael den Seitensprung vor einigen Monaten tatsächlich nur einmal begangen hat und die Affäre längst beendet ist. Sie hat ihm und ihrer beider Liebe eine zweite Chance gegeben. Die Nachricht von dem werdenden Kind, obwohl doch sie zusammen mit Michael eine Familie gründen wollte, bricht wie ein Novembersturm über sie herein. Sie flüchtet nach Pembroke in Wales, dem Ort, in welchem die Lambton-Schwestern vor über hundert Jahren lebten, über deren Leben sie schreibt. Doch Amelie wird in diesem Ort von den Einwohnern angefeindet, ohne dafür ein Motiv erkennen zu können. Dann deutet sich an, dass sie hier bereits gelebt hatte und für die Einwohner keine Unbekannte ist. Erinnern kann sie sich daran nicht. Eine Reise in die Vergangenheit beginnt …

Julie Peters hat eine unterhaltsame und spannende Geschichte um die Suche nach dem Ich, die Suche nach den Wurzeln geschrieben. Die Protagonistin Amelie ist ohne Vater aufgewachsen, ihre Mutter hatte und wollte ihr nichts über ihren Vater erzählen. Die Wut um das Fremdgehen ihres Freundes und die Recherchen für ihr Buch treiben die Protagonistin auf den Weg in ihre eigene Vergangenheit. In einer Parallelhandlung wird dabei vom Leben der Lambton-Schwestern vor hundert Jahren erzählt. In nahezu jedem Kapitel aus der Gegenwart gibt es einen großen Absatz aus damaligen Zeit. Kenntlich wird dies durch eine andere Schriftart gemacht. Damit werden scheinbar zwei Geschichten in einem Roman angeboten. Doch schnell stellt sich heraus, dass die Protagonisten von vor hundert Jahren kaum einen Unterschied zu denen aus der Gegenwart aufweisen. Hier wie dort geht es um das Fremdgehen, um die Liebschaften der Männer, denen dies verzeiht wird, hingegen die Frauen gnadenlos dafür bestraft werden. Geht es in der Gegenwart um Schwangerschaft, so geht es auch in der Vergangenheit um Schwangerschaft. Können sich die Frauen in der Gegenwart nicht zu einer Entscheidung durchringen, so können sie es auch im Gestern nicht. Damit stellt sich die Frage, warum überhaupt dieser Griff zu der Parallelhandlung gemacht, zumal sie nach zwei Dritteln des Buches von der Autorin offenbar vergessen wurde? Still und heimlich gibt es plötzlich keine Ausflüge in die Vergangenheit mehr. Schade, war es doch eine angenehme und nette Verbindung in die Vergangenheit, die mit noch so mancher Überraschung aufwarten konnte.

Peters hat mit diesem Roman das Thema der heutigen Girli-Generation aufgegriffen, die nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Ständige Zweifel nagen an der Protagonistin, sie ist hin- und hergerissen zwischen ihren Wünschen und dem, was sie für sinnvoll hält, kann jedoch keinen Schlussstrich ziehen oder mit der Faust auf den Tisch hauen, wie man es sich wünschen würde. Doch darin liegt bis zu einem gewissen Grade auch die Spannung dieses Romans. Denn der Leser wartet auf die längst fällige Entscheidung. Da die parallele Handlung eh im Sande verläuft, hätte man mit dem Kürzen des Romans weit mehr gewonnen.

Mein Fazit: unterhaltsam, spannend, etwas langatmig. Aber ohne Frage macht es Spaß, ihn zu lesen.

 

Peters, Julie
Der vergessene Strand
Taschenbuch
Rowohlt, Hamburg
ISBN 9783499266645

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Das Haupt der Welt

»Das Haupt der Welt« von Rebecca Gablé

clip_image002Einer Schriftstellerin, die als Mediävistin wie kaum eine andere die englische Geschichte aus dem FF beherrscht, sei es gegönnt, sich in anderen europäischen Landstrichen mit dem Schreiben abzulenken. Mit dem gerade erschienenen Roman Das Haupt der Welt wendet sich Gablé dem deutschen Volke zu und nimmt das 10. Jahrhundert unter die Lupe.

Der Leser befindet sich zu Beginn in Brandenburg des Jahres 929. Besser gesagt: auf der Brandenburg. Hier herrschen die Heveller, ein slawischer Stamm im Havelland. Sie haben sich auf der Burg verschanzt, um einer Belagerung des Frankenkönigs Heinrich zu widerstehen. Doch wie mit einem Handstreich werden die Slawen besiegt. König Heinrich hält es mit seinen Vorgängern und bemüht sich, das Reich der Sachsen nicht nur zu festigen, sondern es auch zu erweitern und die heidnischen Stämme dem christlichen Glauben zuzuführen. Bei Brandenburg erreicht er einen wesentlichen Sieg gegen den Hevellerfürsten Vaclavic, dessen Sohn Bolilut bei diesem Kampf ums Leben kommt. Vaclavics zweiter Sohn, Prinz Tugomir, und seine Tochter Dragomira werden von Heinrich als Geiseln gefangen genommen und nach Magdeburg verschleppt. So soll ein erneutes Aufbegehren der Heveller verhindert werden. Während der Geiselhaft wird Dragomira von Otto, Heinrichs Sohn, geschwängert. Nicht gegen ihren Willen. Sie hat sich in ihr Schicksal gefügt und findet den Prinzen ebenso attraktiv wie er sie. Ihrem Bruder Tugomir jedoch ist das ein Dorn im Auge. Doch so sehr er auch die Sachsen wegen ihrer Gewalttaten gegen die Slawen hasst, kann er sich aufgrund seines edlen Geblüts nicht eines gewissen Respekts seiner Unterdrücker gegenüber erwehren. Das Wort Freundschaft wäre zu viel des Guten, aber Otto, Tugomir und Ottos älterer Bruder Thankmar schwimmen quasi auf einer Wellenlänge.

Gablé hat auf 850 Seiten erneut ein großes Werk der Illusion geschaffen, die Illusion einer Welt, in die die Leser entführt werden. Quasi eine Geiselnahme mit dem Unterschied, dass sich die Leser hierhin gerne entführen lassen. Romane wie dieser dienen mehr denn je dem Eintauchen oder Abtauchen der Leser in andere Welten. Während es im täglichen Alltag immer mehr Stress und Hektik gibt, so kann man sich in diesem Roman trotz aller rasanten Spannung, die ab der Hälfte des Buches noch an Fahrt aufnimmt, in eine ruhigere und überschaubarere Welt versetzen. Die Heldinnen und Helden erscheinen wie Menschen zum Anfassen, sie sind sympathisch und liebenswert, genauso wie die Schurken hassenswert sind. Besonders gelungen ist die Nachvollziehbarkeit der Gedanken der Helden. Natürlich kann heute keiner sagen, was sich ein König bei einer Entscheidung gedacht hat. Aber der fiktive Roman darf das und Rebecca Gablé nutzt das entsprechend. Sie lässt den Leser teilhaben an der Entscheidungsfindung, sie lässt die Zweifel, Ängste, Freiheiten, Zwänge und Gewissensbisse ihrer Helden nachvollziehen. Die Entscheidungen der Herrscher wirken dadurch nicht mehr historisch abstrakt, sondern menschlich. Stundenlang wird der Leser in dieser Welt festgehalten, deren fiktive Handlung mit handwerklichem Geschick und Können durch historische Fakten und Belege untermauert wird. Die Schriftstellerin hat sich nach dem Studium altertümlicher Chroniken und Schriften ihre eigene Meinung gebildet und bietet den Lesern eine Alternative zu manchen Geschichtsschreibern darüber an, wie das Leben am Hofe König Ottos verlaufen sein könnte. In gewohnter Weise hat sie real existierende, historische Persönlichkeiten mit fiktiven Figuren gemischt, um ein dramaturgisch verdichtetes Geschehen der Jahre 929 bis 941 im ostfränkischen Reich aufleben zu lassen.

Mit diesem Roman lässt sich Weihnachten sehr, sehr gut überwintern.

Gablé, Rebecca
Das Haupt der Welt
Hardcover
Lübbe, Köln
ISBN 9783431038835

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf

»Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf« von Julia Stagg

clip_image002Dieser Roman ist der unmittelbare Nachfolger des ein Jahr zuvor erschienenen Romans „Monsieur Papon oder ein Dorf steht Kopf“ Er beginnt etwa wenige Tage nach der Handlung des ersten Romans. Hautnah kann der Leser den Mikrokosmos in einem Bergdorf in Frankreich erleben. Während im ersten Roman die Einwohner des Dorfes Fogas durch den Zuzug eines englischen Ehepaares, die die Dorfschenke betreiben wollen, erschüttert, so werden die Einwohner in diesem zweiten Roman auf ein neues durcheinandergewirbelt.

Fabian, der Neffe von Josette, die die Inhaberin des kleinen Tante-Emma-Ladens ist, hat in Paris studiert und gearbeitet. Nun kehrt er nach Fogas zurück. Zurück deshalb, weil er als Kind jedes Jahr von seinen Eltern hier hergeschickt wurde, um die Sommerferien zu verbringen. Deshalb ist ihm das Dorfleben nicht sehr nicht unbekannt. Nach all dem Trubel in der Metropole Paris sehnt er sich nach dem Landleben und hat die großartige Idee, seiner Tante beim Betrieb des Tante-Emma-Ladens unter die Arme zu greifen. Diese Idee kommt natürlich nicht von ungefähr, schließlich ist aus den Erbschaftsunterlagen von Jacques, dem verstorbenen Onkel, herauszulesen, dass Fabian die Hälfte des Ladens geerbt hat. Weil sich Josette nicht im komplizierten Erbschaftsrecht auskennt, war sie nie auf den Gedanken gekommen, dass ihr der Laden nicht allein gehörte. Getreu dem Sprichwort „Neue Besen kehren gut“ hat der junge Banker ganz frische und mutige Ideen, den Laden im Dorf wieder in Schwung zu bringen. Selbstverständlich kommt er nicht auf die Idee, irgendjemanden, und schon gar nicht seine Tante, zu fragen, ob sie damit einverstanden sei. Dass er damit alle Vorurteile der Dorfbewohner gegenüber den Großstädten unterstützt, fällt ihm nicht im Traum ein. Parallel dazu erleben wir die Geschichte von Stephanie, die auch vor kurzer Zeit in das Dorf gekommen war mit ihrer Tochter Chloé. Keiner ahnt, dass Stephanie vor ihrem Mann geflüchtet ist, um mit ihrer Tochter den ständigen Wutausbrüchen ihres ewig betrunkenen Ehemanns zu entgehen. Stephanie hatte sich in Fogas bereits ein neues Heim aufgebaut und sich hervorragend in die Dorfgemeinschaft eingearbeitet. Doch Stephanie und Fabian geraten des Öfteren mächtig aneinander. Zwischen den beiden scheint sich eine Mauer des Unglücks aufgerichtet zu haben.

Wie schon im ersten Roman hat sich die englische Schriftstellerin auf einen kleinen Trick zurückgezogen, um die Geschichte mit einem zusätzlichen zwinkernden Auge erzählen zu können: Der Geist von Jacques, dem verstorbenen Inhaber des Tante-Emma-Ladens, lebt noch in diesem Dorfladen. Meist sitzt er auf dem Kaminsims. Doch manchmal starrt er auch aus dem Fenster. Jacques ist eigentlich für alle Dorfbewohner unsichtbar außer für zwei von ihnen. Seine Witwe Josette kann ihn sehen und mit ihm sprechen genauso wie die kleine Chloé, Stephanies Tochter. Dieser Geist gibt oft Anlass zu amüsanten Szenen, wenn sich Fabian beispielsweise wundert, dass seine Tante ständig irgendwelche Selbstgespräche führt. Oder wenn Jacques Stephanie warnen möchte. Dazu schreibt er etwas in den Staub. Aber als Geist kann er nicht mit seinen Fingern im Staub schreiben, sondern er muss pusten. Und das bringt den Geist im wahrsten Sinne des Wortes außer Atem. Aber nicht nur dieser Trick ist es, der das Buch besonders reizvoll macht, sondern auch die stets wechselnde Perspektive, aus der die einzelnen Szenen geschildert werden, ist wunderbar gelungen. Nahezu alle wichtigen Dorfbewohner in dieser Geschichte kommen einmal zu Wort, um aus ihrer Sicht die Dinge zu erzählen. Damit der Leser damit nicht zu sehr überfordert wird, ist in jeder neuen Szene im ersten Absatz jeweils der Name der erzählenden Figur aufgeschrieben. Eine schöne Vorgehensweise, die ich so in anderen Romanen noch nicht entdeckt habe.

Volle Punktzahl für einen wunderschönen Roman, der in Frankreich spielt. Wer den Spielfilm um die „Schtis“ kennt er, kann sich etwa eine Vorstellung von diesem Roman machen, wer den Film der „Schtis“ liebt, der wird auch dieser Roman lieben.

 

Stagg, Julia
Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf
Hardcover
Hoffmann und Campe, Hamburg
ISBN 9783455404319

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester

clip_image002 Die in Düsseldorf lebende Schriftstellerin Gina Mayer entführt den Leser mit diesem Roman in die Zeit des Dritten Reiches. Im Mittelpunkt des Romans stehen die beiden Schwestern Anna und Orlanda. Anna, die ältere von beiden, arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus, während Orlanda als Sängerin eine Anstellung an der Düsseldorfer Oper hat. Nachdem sie diese verloren hat, entdeckt sie die Swingmusik für sich und wird Sängerin der Melody Girls. Sie wird hin und her gerissen von der Liebe zu dem Jazz-Geiger Leopold und dessen Freund Clemens, der ebenfalls an der Oper arbeiten. Als im Krankenhaus ein neuer Chefarzt erscheint, steigt Anna zur OP-Schwester auf. Seit der Machtübernahme der Nazis wird das Leben in Deutschland immer schwerer. Auch Orlanda wird mit einem Berufsverbot belegt, weil Swingmusik zur entarteten Musik gehört und die Melody Girls nicht mehr auftreten dürfen. Aber auch im Krankenhaus sind Ärzte und Krankenschwestern unterschiedlicher Meinung zu den Geschehnissen in Deutschland. Anna kann und will nicht allem zustimmen, was die Nazis anstellen. Als die Situation im Verlauf der Jahre immer schwieriger wird, schließt sich die religiöse Anna einer Gruppe an, die im Untergrund Widerstand leistet. Erst viel später erzählt sie ihrer jüngeren Schwester Orlanda davon. Die ist sofort hellauf begeistert und möchte so schnell wie möglich ebenfalls am Widerstand teilnehmen.

Sehr vielschichtig und mit vielen Details aus dem damaligen Düsseldorf, aber auch aus der Zeit des Dritten Reiches, wird von Gina Mayer einen anrührende Geschichte zweier Schwestern im Widerstand gezeichnet. Schwerpunkt liegt dabei ganz klar auf der Entwicklung der Figuren. Während einzelne Nebenfiguren noch einem klassischen Schwarzweißbild entsprechen, so ist dies bei den Hauptfiguren nicht mehr erkennbar. Sie bestehen aus unendlich vielen Grautönen. Auf diese Weise versucht die Schriftstellerin dem Leser nahezubringen, dass die Zeit des Dritten Reiches nicht einfach schwarz-weiß gesehen werden darf. Obwohl die Schwestern bei weitem nicht immer einer Meinung sind, gehen sie doch einen gemeinsamen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu. Bei den Freunden und anderen ist dies nicht mehr der Fall. Während der Jazzmusiker Leopold an seinem Berufsverbot beinahe zu Grunde geht, schafft es der Opernsänger Clemens bis in die höchsten Kreise und wird sogar von Göbbels hofiert. Eine gemeinsame Freundin Fritzi, die schon in ihrer Jugend ihren jüdischen Nachnamen abgelegt hat, weil sie nichts mit der jüdischen Religion zu tun hat, zeigt, dass auch Juden nicht in einen gemeinsamen Topf zu werfen sind. Annas Chefarzt ist ein Mensch, der durchaus Verständnis für das menschliche Miteinander aufbringt, der den Nazis aber keinen Widerstand entgegenbringt und eher, seinen Wohlstand und seine Karriere im Sinn, bei öffentlichen Anlässen den Nazis nach dem Mund redet. Diese Vielschichtigkeit von Figuren und Charaktereigenschaften wird von der Autorin in eine spannende Handlung gepackt und mit sehr vielen Bildern und Detailtreue in die Köpfe der Leser gepflanzt. Während der Leser lange Zeit im Glauben gelassen wird, dass die Fronten innerhalb dieser Figurenkonstellation ziemlich klar sind, gibt es zum Ende hin immer mehr Überraschungen. Die Hinundhergerissenheit zwischen den beiden Männern Leopold und Clemens zieht sich durch den gesamten Roman und immer wieder muss sich der Leser fragen, wie sich Orlanda am Ende entscheiden wird. Wird sie sich überhaupt entscheiden müssen, oder macht die Liebe ihr eigenes Spiel mit ihr.

Ein hinreißender Roman, der in Düsseldorf spielt und viel Liebe zur Musik durchschauen lässt. Ein Roman, der die Gefühle anspricht, und den Menschen von heute, die meistens die Zeit des Dritten Reiches nicht am eigenen Leib erfahren haben, emotional nahe bringt. Ein solcher Roman hat einfach die volle Punktzahl verdient.

 

Mayer, Gina
Das Lied meiner Schwester
Taschenbuch
Aufbau, Berlin
ISBN 9783746628677

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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